Flechten sind ungewöhnliche, faszinierende Doppelwesen aus Pilz und Alge, die zusammen in einer hocheffizienten symbiotischen Lebensgemeinschaft leben. Der Pilz wird von dem Photosynthese betreibenden Partner mit Nährstoffen versorgt, während die Alge von dem Pilz vor zu rascher Austrocknung geschützt wird. Allerdings liegen die Vortei
le der Symbiose stärker aufseiten des Pilzes. Man könnte deswegen diese Partnerschaft vielleicht auch eher als kontrollierten Parasitismus bezeichnen. Der eigentlich dominierende Vegetationskörper ist der Pilz; ein Geflecht aus Fäden, die ein Lager bilden, in dem sie die Population von Photobionten einschließen. Weltweit gibt es zirka 25.000 Arten, die man nach Wuchsform und Auflageflächen unterscheidet und in vier verschiedene Kategorien einteilt – die Krusten-, Blatt-, Strauch- und Gallertflechten.
Mit der Fähigkeit einer Ruhestarre können sie so in extrem kalten oder trockenen Gebieten eher überleben. Bei einer Wüstenflechte ist ein Fall bekannt, wo nach 40 Jahren Trockenzustand die Flechte wiederbelebt werden konnte. Der Stoffwechsel konnte nach erneuter Wasseraufnahme reaktiviert werden. Ihr Wachstum ist in der Regel sehr langsam, meist nur wenige Millimeter im Jahr. Das hängt mit der ungleichen Symbiose zwischen Pilz und Alge zusammen. Die Alge ist oft nur der zehnte Teil vom gesamten Flechtenvolumen, muss aber allein die Ernährung des Pilzes übernehmen. Flechten machen keine Unterschiede zwischen den Substraten in künstlicher oder natürlicher Umgebung. Man kann sie so auf Mauern und Dächern ebenso wie auf verschiedenen Metall- oder Kunststoffoberflächen entdecken (zum Buch Flechten Welt).
Der Fall einer Landkartenflechte (Rhizocarpon geographicum) dokumentiert ihre unglaubliche Überlebensfähigkeit. Sie wurde zwei Wochen lang in der absolut lebensfeindlichsten Umgebung des Weltraums zu Forschungszwecken ausgesetzt und hat überlebt. Ein anderer Superlativ ist das Lebensalter. Flechten zählen zu den längstlebenden Lebewesen überhaupt und können mehrere hundert Jahre alt werden. In einem Einzelfall sogar 4.500 Jahre, wie eine Landkartenflechte in Grönland bewies. Oder im Falle einer Datierung einer 500-jährigen alten Osterinsel-Skulptur, die 1965 anhand des Flechtenbewuchses vorgenommen wurde.
Flechten sind fa
rbenprächtige Spezies. In einer breiten Farbskala von leuchtendem Gelb über kräftiges Orange und differenzierte Brauntöne bis zu tiefrot, rosa, olivgrün, grau und tiefschwarz zeigen sie ihr phänomenales Farbspektrum. Es sind verborgene Schönheiten, die mit wundersamen Formverbänden und spektakulären Farbfeldkompositionen aufwarten. Die hier dargestellten Exemplare stammen aus vielen Kontinenten und Ländern unserer Erde. Nord- und Südeuropa, Südafrika, Türkei, Kambodscha, Vietnam, Ecuador, Galapagos und viele andere. Die Strukturierung ihrer Abbilder wurde bis auf die letzten zwei Abschnitte dieses Buches ihrem vagen Standort zugeordnet. Signifikante übergeordnete Arbeitstitel bezeichnen ihre Herkunft und Art und trennen so die einzelnen Fotoreihen.
Meine Sympathie und Zuneigung zu diesen Wesen entspringt sicher ihrer ästhetischen Erscheinung, die ich in der Nähe von abstrakt-expressionistischer Malerei sehe. Beindruckt von ihrer elementaren Anpassungsfähigkeit verbunden mit ungewöhnlicher Gestaltvielfalt, möchte ich ihre still-anspruchslose und vernachlässigte Existenz mit diesen Fotografien würdigen.